Die Anfangsjahre der Ersten Republik
Dazu kam, dass der neue Staat seine Bevölkerung nicht ernähren konnte. In der Monarchie wurde die österreichische Reichshälfte mit Getreide aus Ungarn, Böhmen und Mähren versorgt. Nachdem die Monarchie zerfallen und die Länder unabhängig geworden waren, gab es in den österreichischen Gebieten zu wenig Getreide und Lebensmittel. Vor allem in Wien gab es in den Wintern 1918/1919 und 1919/1920 schlimme Hungersnöte.
In anderen Bereichen waren die Voraussetzungen für den neuen Staat besser: Die Eisen- und Stahlindustrie war gut entwickelt, es gab funktionierende Banken. Dazu besaß Österreich große Waldflächen: Mit dem Holz konnte geheizt, aber auch Papier hergestellt werden. Auch die Arbeitskräfte waren gut ausgebildet.
Trotzdem glaubten viele, dass der Staat Österreich keine Zukunft habe.
Diskussionsfrage: Warum glaubst du, dass viele Menschen keine Zukunft für den Staat Österreich sahen? Welche Rolle spielen dabei Vergleiche mit der Habsburger-Monarchie?
Wirtschaftliche Situation
Ein großes Problem der österreichischen Wirtschaft in dieser Zeit war, dass sie sehr einseitig war: Von manchen Rohstoffen hatte man zu viel, von anderen dafür zu wenig. Von manchen Gütern wurde zu viel produziert, andere mussten aus dem Ausland ins Land gebracht werden.
Die österreichische Regierung versuchte, dieses Ungleichgewicht zu beheben. So förderte sie etwa den Bau von großen Straßenprojekten wie der Wiener Höhenstraße, der Großglocknerstraße und andere Wirtschaftsbereiche, wie zum Beispiel den Tourismus. Es sollten mehr Menschen nach Österreich kommen, um Urlaub zu machen.
Der neue Staat hatte hohe Schulden und musste sich im Jahr 1922 (und später nochmals 1932) Geld vom Völkerbund leihen. Die Bevölkerung litt darunter, dass das Geld immer mehr an Wert verlor. Erst der strenge Sparkurs der Regierung und die Einführung des Schillings im Jahre 1924 verbesserten die wirtschaftliche Situation.
Auf den Punkt gebracht:
- Österreichische Wirtschaft nach 1918 sehr unausgewogen: Einzelne Rohstoffe, Güter und Wirtschaftsbereiche im Übermaß vorhanden, andere fehlten völlig.
- Bundesregierung förderte Bauprojekte und Tourismus, Geldanleihe beim Völkerbund.
- Dennoch hohe Staatsschulden und harter Sparkurs; Einführung des Schillings.
Soziale Situation
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es in Österreich zu Streiks und Plünderungen. Es wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Die Räte orientierten sich am Sozialismus und sahen sich als Alternative zum parlamentarisch-demokratischen System. Sie übernahmen Aufgaben im sozialen Bereich, zum Beispiel im Wohnungswesen, und hatten vor allem in Wien großen Einfluss.
Ab 1920 verloren die Räte an Bedeutung. Das lag daran, dass sich das parlamentarische System etablieren konnte und einige Gesetze zum Schutz der ArbeiterInnen beschlossen wurden: Der Achtstundentag, die Arbeitslosenversicherung und der Arbeiterurlaub. Die Sozialdemokratische Partei vertrat die Interessen der ArbeiterInnen im Parlament, zudem wurden neue Einrichtungen wie Betriebsräte und die Arbeiterkammer gegründet.
Politische Situation
Trotz der schwierigen Situation nach Kriegsende entwickelte sich Österreich schrittweise zu einer Demokratie. Am 12. November 1918 wurde die Republik „Deutschösterreich“ ausgerufen, zugleich wurde von der Provisorischen Nationalversammlung das Wahlrecht für Frauen beschlossen. Am 16. Februar 1919 wurde die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung abgehalten. Daraufhin gab es eine Koalition der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit der Christlichsozialen Partei.
Nach den Friedensverträgen von St. Germain im September 1919 wurde die Republik in „Österreich“ unbenannt. Nach dem Abkommen mit Ungarn über das Burgenland nahm der Staat Österreich seine endgültige Form an.
Bereits im Oktober 1920 wurde das Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen. Österreich war damit eine bundesstaatliche Republik mit einem stark parlamentarisch geprägten System. Österreich war in neun Bundesländer aufgeteilt, das Parlament bestand aus Nationalrat und Bundesrat. Zudem gab es einen Bundespräsidenten, einen Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof.
Das Bundes-Verfassungsgesetz war die demokratische Grundlage für den neuen Staat. Danach wollten die beiden politischen Parteien, die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten, immer weniger Kompromisse eingehen. Sie sahen sich mehr als Konkurrenten denn als Partner.
Diskussionsfrage: Warum glaubst du, dass das Verhältnis zwischen den beiden politischen Parteien nach der anfänglich guten Zusammenarbeit immer schlechter wurde? Welche Rolle spielten dabei die politischen Umstände?
Im Oktober 1920 wurden erstmals Wahlen zum Nationalrat durchgeführt. Die Christlichsoziale Partei bildete daraufhin eine Koalition mit der Großdeutschen Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ging in Opposition. So blieb es auch in den kommenden 13 Jahren. Es gab keine Machtteilung und die Spaltung des Landes nahm immer mehr zu: Auf der einen Seite das Bürgertum und die Christlichsoziale Partei, auf der anderen Seite die ArbeiterInnen und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei.
Die Parteien trugen die Konflikte nicht nur auf politischer Ebene aus, sondern auch in Form bewaffneter Verbände, die ihnen nahestanden: Die Heimwehr auf Seiten der Christlichsozialen, der Republikanische Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Die politischen Positionen wurden immer extremer und führten auch zum Ausbruch von Gewalt. Mehr dazu findest du im Kapitel, „Das langsame Ende der Ersten Republik“.
Auf den Punkt gebracht:
- 12.11.1918: Republik „Deutschösterreich“ wird ausgerufen (ab 1919: „Republik Österreich“).
- 1919: Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung, Frauen dürfen erstmals wählen.
- 1920: Bundes-Verfassungsgesetz wird beschlossen, erste Wahlen zum Nationalrat.
- Ab 1920er Jahren: Immer größere Gegensätze und zunehmendes Konkurrenzverhältnis zwischen den Parteien.