Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Als Historiker beschäftigt er sich mit der Erforschung der Geschichte. Besonders interessiert ihn die Geschichte der Arbeit und der Familie.
In dem Projekt "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie" hat er eine sehr interessante virtuelle Ausstellung zum Ersten Weltkrieg gestaltet.
Im September 2014 stand er uns zum Thema „100 Jahre Erster Weltkrieg“ Rede und Antwort.
Das 100-jährige Jubiläum ist Anlass für viele Gedenkfeiern und Erinnerungen. Ist die Bedeutung des Ersten Weltkriegs heute noch so groß?
Der Erste Weltkrieg wurde in der allgemeinen Erinnerung und in der Geschichtswissenschaft über viele Jahre durch den Zweiten Weltkrieg „verdeckt“. Seit den 1970er und 1980er Jahren hat man ja die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und hier vor allem die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Holocaust und die Kriegsverbrechen breiter aufgearbeitet. Auch wenn diese Forschungen sicher noch andauern werden, wissen wir inzwischen über die wesentlichen Fragen des Zweiten Weltkrieges, die Vernichtung der Juden und die Zeit des Nationalsozialismus recht gut Bescheid. Deshalb ist nun der Erste Weltkrieg verstärkt in den Mittelpunkt der Forschung gekommen. Die 100-jährige Wiederkehr des Kriegsbeginns sowie die zahlreichen Gedenkveranstaltungen und Bücher haben dies sicherlich noch verstärkt. Zu einem solchen Anlass werden viele Ausstellungen eröffnet – in Österreich gibt es diese nicht nur in den Landeshauptstädten, sondern auch in vielen kleineren Städten. Dort kann man sehen, dass sich die Erforschung des Ersten Weltkrieges in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt hat – auch das ist ein Grund, warum nun vermehrt darüber geredet und berichtet wird. Traditionellerweise hat sich die Kriegsgeschichte vor allem mit den Schlachten und Gefechten, mit den maßgeblichen Generälen und Politikern beschäftigt. Jetzt erfährt man auch etwas über die Erlebnisse der einfachen Soldaten im Krieg, aber auch über das Leben der Frauen und Kinder in der Heimat und das alltägliche Leben während der Kriegszeit. All das interessiert auch heute die Menschen an der Geschichte des Ersten Weltkrieges und deshalb berichten auch die Zeitungen, das Fernsehen und das Internet darüber.
Hätte der Erste Weltkrieg verhindert werden können?
Das ist eine schwierige Frage für einen Historiker, denn die Geschichte ist nun einmal so verlaufen, wie sie ist, und wir können nur versuchen, nachträglich zu erklären und zu verstehen, warum dies so geschah. Fragen nach dem „was wäre gewesen, wenn …“ kann man meiner Meinung nach gar nicht ernsthaft beantworten, weil die möglichen Einflüsse auf den Lauf einer „anderen“ Geschichte nicht zu überschauen sind. Ich möchte diese Frage deshalb etwas abändern: Wo gab es denn Weichenstellungen für den Krieg und wie hätte man anders handeln können? Ich kann hier nur drei wichtige Punkte ansprechen:
1.) Ein ganz grundsätzlicher Konfliktherd hat sich durch Verträge ergeben, welche die großen europäischen Länder geschlossen haben: Da war einmal der sogenannte „Dreibund“ zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien von 1879, dem auch noch Rumänien beigetreten ist. Auf der anderen Seite stand das „Entente“-Bündnis von 1907, zu dem das Vereinigte Königreich, Frankreich und Russland zählten. Beide Bündnisse waren so vereinbart, dass bei einem militärischen Angriff auf einen der Bündnispartner alle anderen zu Hilfe kommen müssen. Anstatt gemeinsam über die politischen Probleme und Schwierigkeiten zu sprechen und am Verhandlungstisch eine Lösung zu suchen, haben sich die Monarchen und Politiker vor allem einzeln getroffen. Dabei wurden die Konflikte zwischen den Ländern immer mehr verschärft.
2.) Österreich-Ungarn hat im Jahr 1908 Bosnien und Herzegowina annektiert (eingegliedert), ohne dass die dortige Bevölkerung das wollte oder sie dazu befragt wurde. Dadurch entstand ein andauernder Streit mit Serbien. Auch Russland und das Osmanische Reich (die Türkei), die selbst Ansprüche anmeldeten und ihre dortigen wirtschaftlichen und politischen Interessen verletzt sahen, waren an dem Streit beteiligt. Hätten hier die Politiker und Generäle aus Österreich-Ungarn anders gehandelt, wäre womöglich in dieser Region kein so „heißer“ Konfliktherd entstanden, an dem sich dann auch der Erste Weltkrieg entzündete.
3.) Nach der Ermordung von Erzherzog Franz-Ferdinand und seiner Gemahlin Sophie in Sarajevo am 28. Juni 1914 haben sich österreichische Politiker und Generäle sowie der Kaiser recht rasch zu einem militärischen Rache- oder Bestrafungsfeldzug gegen Serbien entschlossen, das sie für diese Morde verantwortlich machten. Der deutsche Kaiser und maßgebliche Politiker und Militärs des Deutschen Reiches haben sie bei dieser Entscheidung unterstützt. Auch an diesem Punkt hätten die Verantwortlichen den diplomatischen Weg fortsetzen können und so womöglich einen Krieg verhindert.
Warum konnte so kurz nach einem so schrecklichen Weltkrieg gleich der Zweite Weltkrieg ausbrechen?
Der Diplomat und Historiker George F. Kennan hat im Jahr 1979 den Ersten Weltkrieg als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Er sah in ihm zurecht einen grundsätzlichen Einschnitt, in dessen Folge es zum Zweiten Weltkrieg und anderen Katastrophen des 20. Jahrhunderts kam. Man muss sich dazu die Dimensionen des Ersten Weltkrieges vor Augen führen:
Insgesamt waren etwa 600 Millionen Menschen beteiligt, rund 70 Millionen Soldaten standen im Einsatz, ca. 8,5 Millionen militärische und ungefähr 6,3 Millionen zivile Opfer waren zu beklagen. Dazu kamen noch Millionen Verletzte, Gefangene, Vermisste, lebenslang versehrte und invalide Personen. Gezählt werden müssen auch noch die unzähligen Toten, welche die Spanische Grippe seit dem Frühjahr 1918 forderte. Aufgrund der Menschenansammlungen an den Fronten und in den Lagern konnte sich diese Krankheit extrem rasch ausbreiten und weitere Millionen Soldaten und Zivilpersonen töten. Zurück blieben Länder, die ihre Wirtschaften neu ausrichten mussten, zahllose Menschen mit schlimmen Kriegserlebnissen, zerstörte Familien und vor allem ungelöste politische Konflikte. Aber auch innerhalb der Länder gab es große Spannungen und Probleme: Etwa mit dem Wertverlust des Geldes, der enormen Arbeitslosigkeit und vor allem mit der politischen und gesellschaftlichen Ausrichtung. All das waren die Gründe, warum sich in Deutschland, Österreich und Italien faschistische Regierungen durchsetzen konnten, die ebenfalls auf polizeiliche und militärische Gewalt bei der Lösung von Konflikten setzten. Zum Programm der deutschen und österreichischen Nationalsozialisten gehörte es auch, dass der Versailler Vertrag – der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossen wurde – aufgehoben werden und die verlorenen Gebiete zurück gegeben werden sollten. Mit militärischer Gewalt – oder der Drohung mit dieser – schloss Deutschland dann auch das Saargebiet (1935), das entmilitarisierte Rheinland (1936), Österreich (1938) und das Sudetenland (1938) an und griff schließlich im September 1939 Polen an – womit der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde.
Sie haben in Ihrer virtuellen Ausstellung „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“ zahlreiches Material aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gesammelt und präsentiert. Gibt es darunter ein Stück, das Sie besonders berührt?
Wir haben aus Museen, Archiven und aus einem Sammelaufruf recht unterschiedliche Materialien für unsere virtuelle Ausstellung zusammengetragen. Besonders beeindruckt und berührt haben mich dabei Gegenstände, die zeigen, dass auch Kinder und Jugendliche in den Krieg mit einbezogen wurden und man dabei den Hass auf die Kriegsgegner schürte. Ein bedrückendes Beispiel dafür ist eine Kinderspiel namens „Die böse 7“, das im Wien Museum aufbewahrt wird. Bei diesem Geschicklichkeitsspiel sind auf einer Spielfläche sieben Kriegsgegner – Engländer, Franzosen, Russen, Belgier, Serben, Montenegriner und Japaner – als Karikaturen mit offenem Mund aufgemalt.
Die Aufgabe der Spieler bestand darin, sieben verschiedenfarbige Kugeln in die Mundvertiefungen der Figuren zu bugsieren und so „dem Feind das Maul mit einer Kugel“ zu stopfen. Hier wurden also Kinder und Jugendliche auf spielerischem Wege dazu gebracht, wie „richtige“ Soldaten eine Kugel auf einen der „bösen Feinde“ zu lenken, und wenn man das geschafft hatte, als Sieger aus dem Krieg hervorzugehen. Andere solche Beispiele finden sich auf http://ww1.habsburger.net/de/themen/wie-ich-mit-meinem-zeppelin-einen-naechtlichen-angriff-auf-london-machte-kinder-und und http://ww1.habsburger.net/de/themen/der-krieg-um-die-knoepfe-kinder-und-jugendliteratur-im-ersten-weltkrieg.