Gerhard Baumgartner ist wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) und war Projektleiter der Österreichischen Historikerkommission.
Interview mit Gerhard Baumgartner und Christine Schindler, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW)
Christine Schindler ist seit vielen Jahren Projektmanagerin des DÖW und Herausgeberin des DÖW-Jahrbuches.
Wir haben mit den beiden ExpertInnen im April 2020 über das Thema „Der Zweite Weltkrieg“ gesprochen.
Wie würden Sie einem Kind die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs erklären?
Der Zweite Weltkrieg wurde von den Nationalsozialisten unter ihrem „Führer“ Adolf Hitler begonnen. Sie hatten eine Partei gegründet, die allen Menschen vorschrieb, was sie zu sagen und zu tun hatten. Sie glaubten, dass die Menschen nicht gleichwertig sind und dass so genannte „Arier“ das Recht hätten, andere Menschen zu unterwerfen und zu vernichten. Als ihren größten Feind bezeichneten sie die Juden und Jüdinnen, sie verfolgten aber auch andere Völker und alle demokratischen Parteien und Andersdenkenden. Zusammen mit anderen Diktatoren in Italien, Japan und Spanien führten sie ab 1939 einen grausamen Krieg in vielen Teilen der Welt. Sie wollten anderen Völkern vor allem Raum wegnehmen, um sich dort anzusiedeln, aber auch um ihre Bodenschätze zu rauben.
Die Nationalsozialisten ermordeten dabei Millionen Menschen, vor allem Juden und Jüdinnen, so genannte „Zigeuner“ (Roma und Sinti), Kriegsgefangene und viele andere Menschen. Ihre grausame Schreckensherrschaft wurde 1945 durch die vereinigten Armeen der USA, Frankreichs, Englands und der Sowjetunion besiegt. Insgesamt starben im Zweiten Weltkrieg rund 80 Millionen Menschen, davon mindestens 50 Millionen Menschen, die keine Soldaten waren, sondern Zivilistinnen und Zivilisten.
Welche Rolle spielt für Sie der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime im „Deutschen Reich“?
Im Widerstand waren Frauen und Männer, die die mörderische Politik der Nationalsozialisten nicht mitmachen wollten. Sie verteilten heimlich Flugblätter, die über die Verbrechen berichteten, versteckten und versorgten Verfolgte und organisierten sich in Gruppen: Darunter waren KommunistInnen und SozialistInnen, die für die Rechte der ArbeiterInnen eintraten, sich gegen die Zerstörung der Demokratie auflehnten und von den Nationalsozialisten unbarmherzig verfolgt wurden. Im Widerstand waren aber auch viele gläubige ChristInnen, die vor allem vehement gegen die Ermordung von behinderten Menschen protestierten. Manche Soldaten erkannten erst im Krieg, dass sie Teil einer nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geworden waren, und desertierten aus ihren Armeen. Viele Menschen in den besiegten und besetzten Ländern Europas flüchteten in die Berge und Wälder und kämpften als bewaffnete Partisanen gegen die Besatzer. Andere waren aus persönlichen Gründen widerständig, weil sie einem verfolgten Nachbarn oder einer Freundin helfen wollten.
Viele ÖsterreicherInnen waren Mitglieder der herrschenden Regierungspartei, der NSDAP, und haben zu den Verbrechen beigetragen. Dass Menschen im Widerstand gegen das Regime tätig waren, war einer der Gründe, warum die Siegermächte Österreich 1955 wieder als eigenen, unabhängigen Staat anerkannten. Sie sind bis heute Symbole eines anderen Österreich. Dieses wurde nach 1945 wieder aufgebaut und ist seither eine stabile offene Demokratie.
Welche Aspekte des Zweiten Weltkriegs gibt es, die noch wenig bekannt und erforscht sind?
Vieles wurde seit dem Ende der Diktatur erforscht, so kennen wir heute 76.400 Namen der österreichischen Todesopfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Da die Nationalsozialisten aber viele Dokumente vernichtet haben, andere im Krieg oder danach verloren gingen, wissen wir bis heute nicht die Namen aller von den Nationalsozialisten gequälten und ermordeten Menschen, aber auch nicht aller TäterInnen. Auch über viele Lager, in denen die Menschen gefangen gehalten wurden, wissen wir noch nicht genug. Es gibt in den nächsten Jahren noch unzählige Themen zu erforschen. Man kann im Nachhinein nie jedes Detail ans Licht bringen, aber vieles mehr werden wir erfahren, wenn wir weiter daran forschen.
Wie hat sich das Bild des Zweiten Weltkrieges im Laufe der Zeit verändert?
In Österreich, das 1938 als erstes Land von Deutschland besetzt und an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, hat man sich lange darauf berufen, das „erstes Opfer“ Hitlerdeutschlands gewesen zu sein. Das stimmt, aber man hat damit nach dem Krieg auch versucht, die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen alleine auf Deutschland und „die Deutschen“ abzuschieben. Man wollte lieber nicht darüber reden, dass viele ÖsterreicherInnen ebenfalls AnhängerInnen Hitlers gewesen waren und den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 begrüßt hatten. Auch an den nationalsozialistischen Verbrechen waren viele ÖsterreicherInnen beteiligt.
Nach dem Krieg haben sich vor allem die Opferverbände um Gerechtigkeit bemüht. 1963 wurde das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien gegründet und erforscht seither diese Zeit. In den letzten Jahrzehnten entstanden viele Institute, die sich um die Erforschung und das Gedenken bemühen: Nationalfonds, Entschädigungsfonds, Zukunftsfonds, Historikerkommission, Mauthausen Memorial, Jüdische Museen, erinnern.at, Wiener Wiesenthal-Institut und viele andere.
Heute ist allen bewusst, wie viel Schuld ÖsterreicherInnen auf sich geladen haben. Umso wichtiger ist auch die Bedeutung des österreichischen Widerstandes, der beweist, dass nicht ganz Österreich an den Gräueltaten beteiligt gewesen war. In den letzten Jahrzehnten wurde vielen Menschen klar, wie viele Ungerechtigkeiten passiert sind und wie viele Gruppen das betroffen hat. Daher wird verstärkt versucht, angetanes Unrecht wiedergutzumachen, soweit das möglich ist. So suchte und fand man beispielsweise in vielen österreichischen Museen wertvolle Bilder und Kunstwerke, die damals den Menschen gestohlen worden waren und die nun an die Familien der früheren BesitzerInnen zurückgegeben wurden. Wenn man das Unrecht zwar nicht aus der Welt schaffen kann, ist es wichtig, den Willen dazu zu zeigen.
Wo sind die Folgen des Zweiten Weltkrieges bis heute sichtbar?
In fast allen Orten Österreichs stehen so genannte Kriegerdenkmäler, auf denen die Namen aller Soldaten aufgelistet sind, die im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. An immer mehr Orten stehen auch Denkmäler, die an die Opfer der grausamen Verfolgungen erinnern.
Aus der Zeit sind auch materielle Spuren übrig geblieben, viele Gebäude des KZ Mauthausen sind erhalten geblieben. Von anderen Lagern findet man noch Reste.
Andere Bauwerke nutzen wir noch: Der Tunnel am Loibl-Pass zwischen Kärnten und Slowenien wurde von KZ-Häftlingen gegraben, am Wasserkraftwerk Großraming haben KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mitgearbeitet. Auch an anderen Bauprojekten haben Häftlinge unter schlimmen Bedingungen gearbeitet und viele sind dabei gestorben.
Heute gibt es in Österreich Museen und Institute, die nachfolgende Generationen über diese Zeit informieren. Wir erinnern uns, wohin Intoleranz und Rassismus führen.